
Rain – Kapitel 1
»Lass uns zum Pool gehen, vielleicht ist er ja da.« Melissa greift nach meiner Hand und zieht mich durch das völlig überfüllte Wohnzimmer des Verbindungshauses.
»Sehr ungern«, erwidere ich, als ich die Menschen entdecke, die sich in dem winzigen Pool aufhalten.
»Was?« Melissa beugt sich zu mir, um mich besser zu verstehen.
Der Bass, der aus den Boxen dröhnt, ist so stark eingestellt, dass mein Herz ins Stolpern gerät. »Sehr gern«, antworte ich diesmal und lasse ihr den Vortritt. Ich werde maximal eine Stunde bleiben. Das ist meine erste Studentenparty und wird definitiv auch meine letzte bleiben. Melissa, die ich gerade mal seit zwei Wochen kenne, hat mich überredet, mit ihr herzukommen. Wir studieren an der staatlichen Universität in Harlem und haben eigentlich auf Verbindungspartys der Columbia Universität nichts verloren. Doch Melissa ist ein sprichwörtlicher Social Butterfly. Sie hat bereits jetzt mehr Leute kennengelernt, als ich insgesamt Freunde habe. Vor zwei Tagen wurde sie von ihrem One-Night-Stand zu dieser Party eingeladen und fragt mich bitte nicht, warum ich mitgekommen bin. Es muss pure Verzweiflung und Langeweile gewesen sein. Denn alle meine Freunde von der Highschool studieren in anderen Bundesstaaten.
Der Garten der Verbindung ist nicht besonders groß und alle Sitzgelegenheiten sind belegt, weshalb wir uns auf die andere Seite des Pools kämpfen und mit unseren Getränken auf die Begrenzungsmauer setzen.
»Hast du schon was von Paul gehört?«, erkundige ich mich und lasse den Blick durch den Garten schweifen.
»Noch nicht. Wenn er sich nicht in den nächsten zwanzig Minuten meldet, kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst.«
Ich höre nur mit halbem Ohr zu, denn in diesem Moment kommt ein riesiger Kerl aus dem Haus, bleibt auf der obersten Verandastufe stehen und sieht sich suchend um. Er ist so groß, dass er locker über die Köpfe der Umstehenden hinwegsehen kann. Wow. Er spielt mit Sicherheit Football. Oder Rugby. Bietet Columbia Rugby als Sport an? Ich müsste es googeln. Seine blonden Haare sind raspelkurz geschoren und ein krasser Kontrast zu seiner gebräunten Haut. Er wirkt älter als die meisten hier, aber das kann auch täuschen. Warum sollte er sonst hier sein? Ich beobachte ihn noch einen Moment und sehe, wie jemand an seine Seite kommt und etwas zu ihm sagt. Doch im selben Moment streift sein Blick meinen und er hält inne. Interessiert neigt er den Kopf, um mich genauer anzusehen. Langsam schiebt sich sein rechter Mundwinkel nach oben und dann zwinkert er mir zu. Mein Herz schlägt einen Purzelbaum und das Gefühl landet kribbelnd in meinem Bauch.
Meint er wirklich mich? Ich sehe mich um, doch bis auf Melissa und mich gibt es hier in der dunklen Ecke niemanden. Und meine Freundin bekommt nichts mit, weil sie damit beschäftigt ist, auf ihrem Handy herumzutippen. Möglichst unauffällig hebe ich den Blick und sofort wird sein Grinsen noch breiter.
»Immerhin weiß er, was ihm entgeht. Selbst schuld.« Melissa steckt ihr Handy frustriert zurück in ihre Hosentasche und leert ihr Getränk. »Wenn du die Wahl hättest«, sagt sie und deutet über die Menschenmengen. »Wen von den Kerlen hier würdest du mit nach Hause nehmen? Was ist dein Typ Mann?«
Den Riesen von der Veranda. »Niemanden«, antworte ich schulterzuckend und löse meinen Blick von dem Unbekannten.
»Wie müsste er aussehen? Stehst du auf Nerds mit Hornbrille und gebügelter Faltenhose wie die Jungs auf der Veranda oder doch eher auf Sportler mit stahlharten Muckis wie die Footballer im Pool?«, will sie wissen und deutet hinter sich.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Fremde die Stufen herunter geht und auf uns zukommt. Ich wage es nicht, aufzusehen, und zupfe stattdessen am Label meiner Bierflasche. Meinte er wirklich mich? Wenn ja, muss er mich mit jemandem verwechseln.
»Nun sag schon. Oder sind es vielleicht die Ladys, die es dir antun?« Melissa wartet auf meine Antwort und ich atme tief durch.
»Ich habe keinen bestimmten Typen. Er muss nett sein, ehrlich und loyal. Alles andere ist mir egal.«
Sie seufzt. »Du meinst also langweilig?«
»Wenn du das so siehst«, erwidere ich schulterzuckend.
Melissa seufzt. »Girl, du bist viel zu jung, um dich jetzt schon an einen Langweiler zu heften. Leb lieber, genieße es, dass du frei und unabhängig bist. Das ist doch das Geile an unserem Alter. Wir befinden uns in der Morgendämmerung unseres Lebens. Noch nicht richtig erwachsen, aber auch keine Kids mehr. Das ist unsere Zeit. In diesem Sinne …« Melissa springt von der Mauer und drückt mir ihre leere Flasche in die Hand. »Ich zeig den Leuten hier mal, wie wir bei uns in Kentucky feiern.«
Etwas überrumpelt schaue ich ihr hinterher und schüttle den Kopf, als sie sich ihr Shirt über den Kopf zieht, aus ihrer Jeansshorts steigt und unter lautem Grölen der hauptsächlich männlichen Badegäste in den Pool springt.
»Keine Lust, mit deiner Freundin baden zu gehen?«
Erschrocken zucke ich zusammen, als mich jemand anspricht. Mein Kopf fliegt herum und ich entdecke den Kerl von der Veranda, der plötzlich auftaucht und vor mir stehenbleibt.
Ein Adrenalinstoß durchfährt mich und mein Herz sprintet los. Schnell sehe ich wieder weg. Was war das? Meine Finger prickeln und meine Wangen fühlen sich heiß an. »Äh … nein«, antworte ich zögernd. »Allein bei der Vorstellung, was alles in dem Wasser schwimmt, schüttelt es mich.«
Der Kerl lacht und seine tiefe Stimme beschert mir eine Gänsehaut. Erschaudernd reibe ich mir über die Arme und der Typ versteht die Geste völlig falsch.
»Ist dir kalt?«, will er wissen und greift ungefragt nach meiner Hand, um diese an seinen Mund zu führen.
Seine Lippen sind glühend heiß, als er mir einen Kuss auf die Fingerknöchel haucht. Empört aber auch ein bisschen fasziniert sehe ich in seine Augen und vergesse sofort, warum ich empört bin. Im ersten Moment dachte ich, dass seine Augen grau sind, doch jetzt bei näherer Betrachtung entdecke ich, dass sie eigentlich blau sind und nach außen hin immer dunkler werden. Seine Wimpern sind ein bisschen dunkler als seine Haare. Seine Haut ist makellos und ich entdecke einen leichten Bartschatten, der seinen markanten Kiefer bedeckt. Er hat einen schön geformten Mund, rote Lippen, die sich jetzt gerade bewegen, weil er offenbar mit mir spricht.
»Hm?«, erwidere ich und eise meinen Blick von seinem Mund los, um wieder in seine Augen zu schauen. Und wieder macht mein Herz sofort dieses merkwürdige Ding.
»Wie heißt du?«, will er wissen.
»Rain.«
»Rain«, wiederholt er, als würde er das Wort zum ersten Mal aussprechen und über seine Bedeutung nachdenken. »Was für ein trauriger Name. Mögen deine Eltern dich nicht?«, fragt er dann mit einem amüsierten Zwinkern.
»Nein, tun sie nicht«, antworte ich. »Wie heißt du?«
»Nikkolai.« Nikkolai richtet sich auf und runzelt die Stirn. »Deine Eltern mögen dich nicht?«, fragt er ungläubig.
»Schockt dich zu viel Wahrheit?«
Sein Blick wird dunkler und jetzt könnte ich wieder schwören, dass seine Augen grau sind. Ich kneife meine zusammen und komme ihm ein Stück näher, um mich zu vergewissern.
Nikkolais Mundwinkel hebt sich und seine Augen blitzen auf wie die eines Jägers. »Das Einzige, was mich gerade schockt, bist du, Veselka.«
Veselka? »Rain«, berichtige ich ihn. »Ich heiße Rai…«
Und dann macht Nikkolai etwas, womit ich absolut nicht rechne und was mich völlig überrumpelt. Er beugt sich vor, drückt mir einen Kuss auf den Mund und flüstert: »Für mich bist du ein Regenbogen.«
Mit aufgerissenen Augen sehe ich ihn an. Er hat mich geküsst!
»Wo ist dein Freund?«, fragt er dann und streichelt über meine glühend heiße Wange.
»Mein Freund? Du küsst mich erst und fragst dann, ob ich einen Freund habe?« Ich weiß nicht, ob ich geschockt oder fasziniert sein soll. Er hat mich geküsst!
Wieder grinst er. »Du hast keinen, sonst hättest du mich nicht zurückgeküsst.«
Fassungslos schüttle ich den Kopf. Der Typ hat einen Knall! Wer küsst einen anderen Menschen, den er gerade mal seit drei Minuten kennt?
»Wer ist das Mädchen, mit dem du hergekommen bist?«
»Melissa. Wir studieren zusammen.« Wieso antworte ich dem eigentlich noch? Ich sollte ihm eine knallen und von hier verschwinden.
Nikkolai nickt und greift ungefragt wieder nach meiner Hand. Er verschränkt unsere Finger miteinander und sieht mir dann tief in die Augen. »Was machst du hier? Kennst du einen von den Jungs?«, will er wissen und deutet zum Haus.
Ich schüttle den Kopf. »Ich bin nur hier, weil Melissa herkommen wollte.« Hallo, Vernunft, bist du noch da?, rufe ich laut in mein Bewusstsein, erhalte jedoch keine Antwort.
Nikkolai nickt und dann schleicht sich wieder ein Lächeln auf seine Lippen, das ich nicht deuten kann. Hat er vielleicht eine Wette verloren oder so etwas? Ich sehe mich verstohlen um, ob uns vielleicht irgendwer beobachtet. Doch niemand scheint sich für uns zu interessieren. Nicht einmal Melissa bekommt mit, was hier passiert, sie sitzt bei irgendwem auf den Schultern und ringt mit einem anderen Mädchen, das ebenfalls auf den Schultern eines Jungen sitzt. Ich kann nur die Augen verdrehen und spüre, wie Nikkolai an meinem Zopf zupft.
Ich sehe zu ihm zurück.
»Welche Farbe haben deine Haare?«
»Blau«, antworte ich irritiert, weil das unübersehbar ist.
Sein Grinsen wird breiter. »Deine Naturhaarfarbe«, raunt er mir zu.
Obwohl seine Frage nichts Anzügliches an sich hat, breitet sich trotzdem unerträgliche Hitze in mir aus.
Sein Schmunzeln wird frecher. Nikkolai umfasst meine Taille, zieht mich an sich, legt seine freie Hand auf meine Wange und neigt meinen Kopf nach hinten. »Deine Augen sind wunderschön. So ein Blau habe ich noch nie gesehen«, flüstert er rau.
Diesmal sehe ich, was er vorhat, und trotzdem unternehme ich nichts, als er sich abermals vorbeugt und mich küsst.
Meine Augen fallen zu, als sein warmer Mund auf meinem landet, und ich atme seufzend ein. Seine Finger zucken, als er in meine Hüften greift, als müsse er sich davon abhalten, mich an sich zu reißen. Aber wie nah will er mich noch haben? Es passt jetzt schon kein Blatt mehr zwischen uns. Ich spüre seinen feuchtheißen Atem, als er meinen Mund neckt, mit der Spitze seiner Zunge über den Saum meiner Lippen gleitet und einen zarten Kuss auf meinen Mundwinkel haucht.
Ich bekomme eine Gänsehaut und in meinem Magen kribbelt es wie bei einer Achterbahnfahrt. Was geschieht hier? Ich kenne diesen Kerl überhaupt nicht und wir haben kaum mehr als eine Handvoll Worte gewechselt. Wieso sitze ich hier mit dem in einer dunklen Ecke auf einer Mauer und knutsche rum? Das bin nicht ich.
›Girl, du bist viel zu jung, um dich jetzt schon an einen Langweiler zu heften. Leb lieber, genieße es, dass du frei und unabhängig bist.‹
Melissas Worte kommen zurück. Hat sie etwa recht?
»Wo bist du mit deinen Gedanken, Veselka?« Nikkolai bemerkt, dass ich nicht ganz bei der Sache bin, und lehnt sich ein Stück zurück. Sein warmer Blick wandert suchend zwischen meinen Augen hin und her und er streichelt unerlässlich über meine Wange.
»Sorry«, flüstere ich und lehne mich von ihm weg.
Er lässt mich sofort los und sieht mich mit Bedauern im Blick an. »Geht es dir zu schnell?«
Seine Frage bringt mich unweigerlich zum Lachen. »Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, sind wir allerspätestens morgen verheiratet.«
Nikkolai lacht und stiehlt sich noch einen Kuss, ehe er mich von der Mauer hebt und zu einer frei gewordenen Liege führt. Er setzt sich zuerst und zieht an meiner Hand, bis ich mich schließlich ergebe und zwischen seine Beine setze. Sofort schlingt er die Arme um mich und lehnt sich zurück. Das Streulicht über Manhattan ist so hell, dass man nie den Sternenhimmel sieht. Deswegen bin ich umso überraschter, als ich einen hellen Punkt am Firmament entdecke.
»Das ist Jupiter. Man sieht ihn gerade zu dieser Jahreszeit mit bloßem Auge«, flüstert mir Nikkolai ins Ohr und beschert mir schon wieder eine Gänsehaut.
»Wie alt bist du?«, will ich wissen.
»Einundzwanzig. Und du?«
»Ich werde in zwei Wochen neunzehn. Wo kommst du her?« Er hat einen Akzent, den ich nicht einordnen kann.
»Kiew.«
»Ukraine?«, frage ich und sehe über meine Schulter.
Nikkolais Blick findet sofort meinen und er fängt gleich wieder an zu lächeln. »Wunderschön und intelligent. Eine gefährliche Kombination.«
Mein Puls schlägt bei seinen Komplimenten augenblicklich höher. »Bist du zum Studieren hier oder lebst du schon länger in den Staaten?«
»Ich habe ein Auslandsstipendium erhalten.«
»Was studierst du?«
»Internationales Finanzmanagement, Mathematik und Physik.«
Meine Brauen wandern in die Höhe. Wow, das hätte ich jetzt nicht erwartet.
»Das hättest du nicht von so jemandem wie mir erwartet?«, errät er meine Gedanken und ich senke ertappt den Blick. Nikkolai schnalzt mit der Zunge und legt seinen Finger unter mein Kinn, um es anzuheben. »Sieh nicht weg, Veselka, ich will in deinen Augen ertrinken. Sie sind blau wie das Meer.«
Unsere Blicke verhaken sich miteinander und je länger der Moment andauert, desto lauter wird mein Puls. Mir wird immer heißer. Ein irres Gefühl überkommt mich, es fühlt sich wie ein Déjà-vu an, eine Erinnerung, von der man weiß, dass sie nicht echt ist, die sich aber echt anfühlt. Ich kenne Nikkolai. Dabei bin ich ihm noch nie in meinem Leben begegnet.
Unser Moment wird unterbrochen, als Nikkolais Freund zu uns stößt.
»Hey, Nikko, Alma hat gerade angerufen. Sie ist mit den anderen jetzt in Coney Island. Wir sollen dort hinkommen.«
»Ich komme nicht mit«, antwortet Nikkolai, ohne wegzusehen. »Fahr ohne mich.«
Der Freund stutzt und sieht nun neugierig zwischen uns hin und her. Ich befeuchte meine Lippen und schlucke, schaffe es aber nicht, meinen Blick von Nikkolais zu lösen.
»Wer ist das?«, will der Freund wissen und sieht mich nun mit echter Neugier an.
»Das«, antwortet Nikkolai und deutet auf mich. »Ist die Liebe meines Lebens.«
»Oookay«, stößt sein Kumpel schnaubend aus und klopft Nikkolai mitfühlend auf die Schulter. »Für dich gibt es ab jetzt nur noch Wasser. Los, komm, Alma macht uns die Hölle heiß, wenn wir sie an ihrem Geburtstag hängen lassen. Verabschiede dich von dem Mädchen und dann lass uns abzischen.«
Der Typ will Nikkolai von der Liege ziehen, doch der bleibt sitzen und hebt irritiert den Kopf.
»Ich meine es ernst!«
»Was, dass du hierbleibst oder dass du angeblich nüchtern bist?«, erwidert der Freund leicht irritiert.
Ich stehe auf und handle mir sofort einen unzufriedenen Blick von Nikkolai ein.
Dann folgt er mir und streckt die Hand nach mir aus. »Komm mit!«
»Ich?«, frage ich und deute auf mich.
Er nickt. »Ja, komm mit nach Coney Island. Warst du schon mal dort? Ich zeige dir, wo man die besten Hotdogs der Stadt bekommt.«
Fast muss ich lachen. Wenn er denkt, dass es in Coney Island die besten Hotdogs der Stadt gibt, hat er noch nicht viel von New York gesehen. »Ich kann nicht. Ich bin mit Melissa hier«, erwidere ich und deute zum Pool.
»Siehst du, sie will gar nicht mit. Sag bye und dann lass uns abhauen.« Der Freund von Nikkolai packt ihn an der Schulter und versucht, ihn von mir wegzuschieben.
Doch Nikkolai bewegt sich keinen Zentimeter. »Rain?« Flehend sieht er zu mir.
Lächelnd schüttle ich den Kopf. »Es war nett, dich kennenzulernen. Ich muss ohnehin nach Hause. Viel Spaß euch.« Ich hebe die Hand zum Abschied und bevor er die Gelegenheit bekommt, mir zu folgen, laufe ich ins Haus, halte nach Melissa Ausschau und krame mein Handy aus der Hosentasche.
»Rain, bist du das?«
»Ja, wo steckst du? Ich muss nach Hause«, behaupte ich.
»Paul hat vor zehn Minuten angerufen. Ich bin jetzt auf dem Weg nach SoHo. Ich konnte dich nicht finden und du bist nicht an dein Handy gegangen. Ich dachte, du bist nach Hause gefahren. Jetzt sag mir nicht, du bist doch noch auf der Party?«, fragt sie verwundert.
»Nein«, erwidere ich. »Ich bin jetzt auch auf dem Weg zur Bahn.«
»Allein? Rain, nimm dir lieber ein Taxi.«
»Ist schon okay. Wir sehen uns Montag in der Vorlesung.«
»Ihr New Yorker seid alle crazy, um diese Uhrzeit noch alleine Bahn zu fahren! Schreib mir, wenn du zu Hause angekommen bist, okay?«
»Und ihr Nicht-New Yorker glaubt einfach alles, was man euch erzählt. Ich fahre seit achtzehn Jahren alleine Bahn und mir ist noch nie etwas passiert.«
Melissa schnaubt. »Girl, ich bezweifle, dass du als Baby schon allein Bahn gefahren bist. Sei bitte trotzdem vorsichtig, ja? Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Und hab dein Handy immer griffbereit!«
Es sollte mich nicht so hart treffen, dass sich jemand um mich sorgt. Trotzdem wird mein Hals eng und ich presse die Lippen aufeinander. Denn ich kenne Melissa erst seit wenigen Tagen. Noch nie habe ich diesen Satz von meinen Eltern gehört: ›Sei vorsichtig, Rain, wir möchten nicht, dass dir etwas zustößt.‹ Und ist das nicht verdammt traurig?
»Versprochen«, erwidere ich gerührt und lege auf, bevor mich meine Gefühle komplett überrennen.
Als ich in der Bahn sitze, stecke ich mir meine Airpods in die Ohren, scrolle zu meiner Lieblingsplaylist, lehne mich gegen die Scheibe und schließe die Augen. Sofort sehe ich Nikkolai und das zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen. Er hat mich geküsst, einfach so! Und er hat seinem Kumpel gesagt, ich wäre ›die Liebe seines Lebens.‹. Schmunzelnd schüttle ich den Kopf. Was wäre wohl passiert, wenn ich zugestimmt hätte, mit nach Coney Island zu fahren? Wären wir vielleicht sogar weitergegangen, als uns nur zu küssen? Ich hatte noch nie einen One-Night-Stand, dazu fehlte mir bisher immer der Mut. Aber mit Nikkolai könnte ich es mir vorstellen. Er kam mir so verdammt vertraut vor, als würden wir uns schon ewig kennen. Verrückt! War das vielleicht eine Schicksalsbegegnung und ich habe ihn mir durch die Lappen gehen lassen? Nikkolai kommt aus einer völlig anderen Welt, einem fremden Land und dass sich unsere Wege ausgerechnet heute Abend auf einer Studentenparty in New York kreuzen, ist schon außergewöhnlich, oder? Gedankenversunken kaue ich auf meinem Daumennagel und bekomme wenig mit, was um mich herum passiert.
An der Station Delancey Street steige ich aus, um in den J-Train zu steigen, der mich nach Hause bringt. Meine Eltern können es kaum erwarten, mich endlich loszuwerden. Sie hätten es am liebsten, dass ich in ein Studentenheim ziehe, doch als New Yorkerin ist es schier unmöglich, eines der begehrten Zimmer zu bekommen, die verständlicherweise für Studenten von außerhalb freigehalten werden. Und ein eigenes Apartment kann ich mir nicht leisten mit dem mickrigen Gehalt, das ich als Babysitterin verdiene. Meine Eltern wollen raus aus der Stadt und halten mir immer wieder vor, dass ich sie davon abhalte, endlich ihren Ruhestand zu genießen. Mom war Anfang vierzig und Dad Mitte fünfzig, als sie mich bekommen haben. Sie wollten nie Kinder und mein Vater hat sich sogar sterilisieren lassen. Als es dann doch passierte, war es bereits zu spät, um es wieder rückgängig zu machen. Und das lassen sie mich wissen, seit ich denken kann.
Plötzlicher Lärm lenkt meine Aufmerksamkeit ab. Auf dem gegenüberliegenden Gleis ist eine Bahn eingefahren und der Zugführer fordert die Gäste gerade auf, von den Türen wegzutreten. Ich blicke über meine Schulter, um zu sehen, was oder wer für den Aufruhr verantwortlich ist, und reiße ungläubig die Augen auf. Nikkolai und sein Freund klopfen wie verrückt gegen die Scheibe der Bahn und rufen laut nach mir.
»Rain!«
»Rain! Veselka!«
Mir klappt der Mund auf. Was macht Nikkolai hier?
»Steig ein! Los beeil dich!«, ruft Nikkolai und rennt durch den Waggon zur Tür, die sich gerade schließt. »Lauf!«, fordert er mich auf und hält die Automatiktüren mit Anstrengung auf.
Die Bahn setzt sich in Bewegung und ich spüre die Blicke der Umstehenden auf mir.
»Das ist unser Schicksal, Veselka! Wir sollten uns treffen!«, ruft Nikkolai.
»Girl, er meint dich«, sagt irgendwer neben mir.
»Wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn auf der Stelle«, kommt es von woanders her.
»Rain, komm schon!«
Die Bahn wird schneller und mittlerweile hilft ihm sein Kumpel, die Tür aufzuhalten, damit Nikkolai seine Hand nach mir ausstrecken kann.
Ich bleibe noch etwa eine Sekunde stehen und dann entscheide ich: Scheiß drauf!, und renne los.
Hinter mir bricht Jubel aus, als Nikkolai meine Hand greift und mich in die Bahn zieht. Sein Freund lässt die Türen los und dann liege ich plötzlich wieder in Nikkolais Armen. Atemlos sehe ich zu ihm auf und er schenkt mir ein zauberhaftes Lächeln.
»Hi.«
Mein Herz rast wie verrückt. »Hi«, antworte ich und erwidere sein Lächeln.
Nikkolai streicht mir die Haare aus dem Gesicht, beugt sich zu mir herunter und küsst mich grinsend.